Was meine Frau und ich uns mit der beruflichen Belastung in den letzten Jahren angetan haben, merken wir erst jetzt, wo wir diverse Projekte abgeben und das Pensum - wegen meiner Erkrankung - rigoros zurückfahren. Plötzlich heilen meine Ekzeme. Plötzlich beisse ich mir nicht mehr die Fingernägel ab und plötzlich gibt es in meinem Kopf noch ganz andere Gedanken als nur Arbeit, Termine, Projekte und Problemlösungen. Plötzlich finden wir auch Zeit, wieder miteinander tiefe Gespräche zu führen und einander quasi neu kennenzulernen.
Meine Frau hat es symbolisch umschrieben: "Wir sind wie auf Schienen gefahren".
Es gilt nun, inne zu halten, nachzudenken und die Werte neu zu definieren.
Meine Überlegungen kamen zum vorläufigen Ergebnis, dass dies die drei höchsten Güter unserer Epoche sind:
- Zeit haben
- Platz für Aktivitäten
- Ruhe zum Nachdenken
Mehr dazu an einem anderen Tag.
Was man sich selber antun kann, umschreibt auch Stefen Rieger sehr gut:
Selbstoptimierung bis zur Schizophrenie
Der Medienwissenschaftler Stefan Rieger schreibt in seinem neuen Buch
über Multitasking. Für ihn ist klar: Wir müssen unbedingt
weniger tun – und das auch noch langsamer.
Wie viele Sachen machen Sie gerade neben der Lektüre des Artikels?
Wie viele Browser-Fenster haben Sie gerade offen? Betreiben Sie auch die
ganze Zeit Multitasking, obwohl Sie eigentlich um dessen Fallstricke
wissen?
Der Begriff Multitasking, zu Deutsch etwa
«Mehrprozessbetrieb», stammt aus dem technischen Vokabular
– und dort hätte er laut Stefan Rieger auch bleiben sollen. Der
Philosoph und Professor für Mediengeschichte an der Universität
Bochum untersucht in seinem neuen Buch «Multitasking. Zur
Ökonomie der Spaltung» das Phänomen aus
kulturwissenschaftlicher Perspektive.
Der «polypersonale Schizo» als Leitbild
War Multitasking in den 90er-Jahren das grosse Ding bei Managern, hat es
längst auch die Freizeit erfasst. Die Leute wollen sich gleichzeitig
ausruhen, unterhalten und weiterbilden. Nur abschalten kann der moderne
Mensch nicht mehr. Dazu trägt auch das Smartphone bei, dieses
Büro in der Hosentasche als steter Begleiter.
Riegers
Diagnose ist verheerend: «Der neue, der polypersonale Schizo ist ihr
positives Leitbild.» Das klingt nicht nur gefährlich, sondern
ist es auch. Durch den dauernden Druck werden
Persönlichkeitsstörungen gefördert, wie die
Neurowissenschaft gezeigt hat. Das menschliche Gehirn sei ein Flaschenhals,
der sich nicht beliebig erweitern lässt; mehrere Sachen gleichzeitig
gehen da einfach nicht durch. Der Autor fordert zum Schluss Entschleunigung: «Tun wir fortan
also weniger – und tun wir es vor allem langsam.»
«Multitasking vermanscht das Gehirn»
Rieger ist ja beileibe nicht der Erste, der Entschleunigung fordert.
FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher hat in seinem Buch «Payback»
über die Gefahren des Internets geschrieben und sagte vor einem Jahr
im Interview mit dem «Tages-Anzeiger»: «Multitasking
vermanscht das Gehirn. Es findet eine Veränderung im Hippocampus
statt, durch die Reizüberflutung des Multitasking wird die
Gedächtnisstruktur beschädigt. Für Computer ist es genial,
wenn sie Dinge gleichzeitig tun. Wir Menschen können das nicht, wir
sind lineare Wesen.»
In eine ähnliche Richtung gehen Vermutungen zum Zusammenhang mit
dem vermehrten Auftreten von ADHS. Die ganze Gesellschaft scheint an einem
Aufmerksamkeitsdefizit zu leiden und sowieso nur an Bildschirmen halbwegs
arbeiten zu können. Verunmöglicht das dauernde
«audiovisuelle Störfeuer», wie es der Philosoph Christoph
Türcke in seinem Buch «Hyperaktiv!» beschreibt, anderes
Arbeiten als Multitasking? Ist ungeteilte Aufmerksamkeit ein
gefährdetes Gut?
Offensichtlich schon, denn obwohl man um die Gefahren weiss, wird
Multitasking nicht konsequent bekämpft. Viele Leute kommen nicht
heraus aus dem Teufelskreis von Effizienzsteigerung und Selbstoptimierung.
Stefan Rieger meint dazu, man müsse sich verweigern und einfach
aussteigen. Und insgesamt weniger tun, und das auch langsam.
Tagesanzeiger.ch/Newsnet am 9.08.2012